und warum Atemarbeit nicht für alle passt.
Der Atem als Brücke
Der Atem ist Bewegung. Er ist die vielleicht einfachste und zugleich tiefste Möglichkeit, mit unserem Nervensystem in Kontakt zu treten.
Mit jedem Einatmen signalisiert der Körper: Ich bin bereit.
Mit jedem Ausatmen: Ich darf loslassen.
Unser vegetatives Nervensystem reagiert unmittelbar auf diese Rhythmen.
Wenn der Atem ruhig wird, folgt das Herz, folgt der Muskeltonus, folgt der Geist.
Darum finden sich in vielen therapeutischen und achtsamkeitsbasierten Methoden Atemübungen – als Wege, das Nervensystem zu beruhigen, zu fokussieren oder zu stabilisieren.
Aber, und das ist entscheidend, nicht jede Atemtechnik wirkt bei jedem Menschen gleich.
Es gibt keine allgemeingültige Formel für Ruhe. Was den einen entspannt, kann bei dem anderen Druck auslösen.
Darum geht es weniger um richtig oder falsch, sondern um neugieriges Ausprobieren:
Welche Form des Atmens tut mir gut? Was fühlt sich stimmig an, was nicht?
Atemarbeit ist kein Regelwerk, das befolgt werden muss, sondern ein persönlicher Weg der Erkundung. Ein Prozess des Spürens, Prüfens, Wieder-Versuchens. Wenn wir die Dogmen loslassen, entsteht Raum für etwas Lebendiges – für den eigenen Rhythmus.
Atemtechniken zur Regulation des Nervensystems
1. Box Breathing –
Struktur in der Unruhe
Wie:
Vier Sekunden einatmen – vier halten – vier ausatmen – vier halten.
Dann wiederholen.
Wirkung:
Diese rhythmische, quadratische Struktur bringt Ordnung in ein überreiztes System. Wenn Gedanken rasen oder Angst den Brustkorb eng macht, kann Box Breathing einen stabilen Rahmen bieten – wie eine beruhigende, klare Form.
Wann hilfreich:
Bei innerer Anspannung, Überforderung, mentalem Lärm, in Stresssituationen oder vor Gesprächen.
2. 4-7-8 Atmung – die Kunst des Loslassens
Wie:
Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden halten, acht Sekunden ausatmen.
Langsam, ohne Druck, mit weichem Mundausatmen.
Wirkung:
Der verlängerte Ausatem aktiviert den Vagusnerv – unser parasympathisches Beruhigungssystem. Diese Atmung senkt den Puls, kann beim Einschlafen helfen
und unterstützt das Gefühl von Sicherheit im Körper.
Wann hilfreich:
Bei Schlafproblemen, Nervosität, Grübelneigung oder körperlicher Unruhe.
3. Doppelsueufzer Atem –
der Reset-Atem
Wie:
Zweimal kurz hintereinander durch die Nase einatmen –
beim zweiten Atemzug etwas mehr füllen – dann langsam und hörbar durch den Mund ausatmen.
Wirkung:
Diese Atemform nutzt einen natürlichen Reflex:
Auch nach Weinen oder tiefem Erschrecken holt der Körper manchmal diesen doppelten Seufzer. Er gleicht den Sauerstoff- und CO₂-Spiegel aus, entlädt Spannung und wirkt schnell regulierend.
Wann hilfreich:
Bei akuter Stressreaktion, Engegefühl oder emotionaler Überforderung.
4. Wechselatmung – Balance finden
Wie:
Mit dem rechten Daumen das rechte Nasenloch schließen, links einatmen.
Dann mit dem Ringfinger das linke Nasenloch schließen, rechts ausatmen.
Anschließend rechts einatmen, links ausatmen – und so fortsetzen.
Wirkung:
Die Wechselatmung bringt Balance zwischen Aktivierung und Ruhe, zwischen rechter und linker Gehirnhälfte,
zwischen Sympathikus und Parasympathikus.
Wann hilfreich:
Bei innerer Unausgeglichenheit, Anspannung, Konzentrationsproblemen oder mentaler Erschöpfung.
Wenn Atemarbeit nicht funktioniert – und warum das völlig in Ordnung ist
Nicht jeder Körper reagiert auf Atemübungen mit Entspannung.
Manche Menschen erleben sogar das Gegenteil: Enge, Schwindel, Unruhe.
Das kann daran liegen, dass das Zwerchfell verspannt ist oder bestimmte Atemmuster mit alten Stressreaktionen verknüpft sind. Zum Beispiel, wenn ein Atemanhalten unbewusst an eine gefährliche Situation erinnert.
Oder Menschen im sogenannten dorsal-vagalen Zustand – also in einem inneren Erstarrungszustand. Ihr Puls bleibt niedrig, selbst beim Einatmen, und der Versuch, tiefer zu atmen, kann Panik auslösen.
Das bedeutet nicht, dass du etwas falsch machst. Es bedeutet: Dein Körper schützt dich.
Atemarbeit ist keine Pflicht – sie ist ein Angebot. Und manchmal darf das Angebot lauten: Lass den Atem in Ruhe – und es gibt Alternativen:
Körperbasierte Alternativen, bei denen der Atem von selbst kommen darf:
Wenn bewusste Atemübungen nicht guttun, gibt es Wege, über Bewegung und Körperkontakt wieder Raum für den Atem zu schaffen:
1. Arme über den Kopf heben
Wenn sich die Arme heben, entsteht von selbst Raum im Bauch – der Bauchnabel darf sich leicht nach vorne und unten mitbewegen, ohne dass du etwas tust – so löst sich das Zwerchfell und der Atem findet zurück in seine Bewegung.
2. Kopf sanft von Seite zu Seite drehen
Das aktiviert den Phrenikusnerv, der das Zwerchfell innerviert – und kann den Atem wieder von selbst in Fluss bringen.
3. Sanftes Schaukeln
Das vestibuläre System (unser Gleichgewichtssinn) beruhigt das limbische System (unsere Emotionen). Bewegung signalisiert Sicherheit – und mit der Sicherheit kehrt der Atem zurück.
Zum Schluss
Atemarbeit kann ein wunderbarer Zugang zu Ruhe, Präsenz und Selbstwirksamkeit sein. Aber sie ist kein Dogma.
Wenn wir neugierig bleiben – statt richtig oder falsch zu denken – wird der Atem wieder das, was er immer war: eine Einladung, uns selbst zu begegnen.